Als "Wienerbørn" (Wienerkinder) wurden unterversorgte Kinder aus Wien bezeichnet, die
bei einem Erholungsaufenthalt in Dänemark von Pflegefamilien aufgepäppelt wurden.
Die Ausgangslage
Die Kapitulation Österreichs im 1. Weltkrieg und der Zusammenbruch der Habsburger Monarchie führten
zu einer massiven Versorgungskrise im Land, von der insbesondere Wien betroffen wurde. Hier starben
allein 1919 rund 53.000 Menschen an Hunger und Kälte, davon rund 60 % Minderjährige. 91 % der Wiener
Kinder litten 1918 unter anhaltender Mangelernährung und waren entsprechenden Krankheiten und
Entwicklungsstörungen ausgesetzt. Diese katastrophalen Verhältnisse lösten eine internationale Welle
karitativer Initiativen zur Rettung der Kinder aus. Die erste und größte Aktion kam 1917 aus
der Schweiz, gefolgt von den Niederlanden und auch die heute international tätige NGO
"Save the Children" wurde in diesem Kontext 1919 in London gegründet. In den Jahren
1918-24 wurden rund 250.000 Wiener Kinder in das Ausland zu Pflegeeltern verschickt.
Dänische Organisation
In Dänemark nahm sich der Rechtsanwalt Dr. Sigurd Jacobsen (* 1882, † 1948) dem Schicksal
der Wiener Kinder an. Er schloß kurzerhand seine Kanzlei in Kopenhagen und organisierte mit
Gleichgesinnten einen Erholungsaufenthalt in Dänemark für bedürftige Kinder. Seine Aufrufe, als
Gastfamilie ein Pflegekind aufzunehmen, hatten eine überwältigende Resonanz aus allen Regionen
Dänemarks und so konnte eine erste Einladung für 400 Kinder nach Wien gesandt werden, die am
06. November 1919 in Dänemark eintrafen. Die ungebrochene Hilfsbereitschaft des dänischen Volkes
ermöglichte schon bald weitere Transporte und die Initiative mußte sich reorganisieren. Das
"Centralkomiteen for Wienerbørns Ophold i Danmark" in Kopenhagen, kurz "Centralkontoret",
organsierte die Reisen und führte die Kartei der wartenden Gastfamilien. Zusätzlich gab es rund 80
"Lokalkomiteerne", die vor Ort die Aktion im Alltag begleiteten.
Das Angebot für einen 3-monatigen Erholungsaufenthalt in Dänemark richtete sich an notleidende Kinder
im Alter von 6-14 Jahren. Deren Auswahl verantwortete zunächst der "Deutsch-Österreichische Jugendbund",
ab Sommer 1920 übernahmen zwei in Wien ansässige Dänen im Auftrag des Centralkontors. In jedem Fall
attestierten ärztliche Untersuchungen sowohl die Pflegebedürftigkeit als auch die Reisefähigkeit
der Kandidaten. Die Transporte erfolgten mit Sonderzügen, die aus dänischen Spendengeldern finanziert
und von ehrenamtlichen Begleitpersonal sowie einem Bordarzt betreut wurden. Die Pflegefamilien
übernahmen die Unterhaltskosten und scheuten darüber hinaus keine Anstrengung, um ihre Schützlinge
mit allem Nötigen reichlich auszustatten.
Børnetoge - Kinderzüge
Die Sonderzüge für die Wienerbørn wurden aus angemieteten Reisezugwagen der "Österreichische Staatseisenbahn"
(ÖStB) gebildet. Dabei handelte es sich um ältere Drehgestellwagen, die jeweils mit Seitengang und 9 Abteilen
eingerichtet waren. Tatsächlich erforderte der verschlissene Zustand des Materials immer wieder kleinere
Reparaturen während der Reise. Ein üblicher "Børnetog" (Kinderzug) bestand aus 8 Wagen der 3. Kl.,
die jeweils bis zu 70 Kindern sowie 2-3 Begleitpersonen aufnahmen. In der Mitte des Zuges befand sich ein
weiterer Waggon der 1. oder 2. Kl. mit dem Büroabteil des Reiseleiters, dem Behandlungsabteil des Bordarztes
und Ruheräumen für das Begleitpersonal. Nach den Erfahrungen mit den ersten Zügen wurde bald auch ein
provisorischer Küchenwagen beigestellt. Dieser war in einem ehemaligen Gepäckwagen eingerichtet und diente
der Versorgung der Reisenden mit Tee, Suppe und Smørrebrød. Ein üblicher Børnetog hatte demnach 500-600
Kinder sowie rund 35 Erwachsene an Bord. Die Kinderzüge verkehrten im Abstand von 12-14 Tagen und benötigten
3 Tage für die einfache Strecke. Im gesamten Aktionszeitraum wurden 45 Züge für die Anreise und 43
Züge für die Heimfahrt organisiert.
Die Reise der Wienerbørn begann am Wiener Franz Josefs Bahnhof. Die ersten Züge liefen über Tschechien,
wurden wegen Komplikationen an der Grenze aber bald über Linz und Passau und von dort über eine der folgenden
Routen geführt: Reisende nach Seeland, Lolland, Falster und Møn erreichten Dänemark über Hof-Leipzig-Berlin-Warnemünde-Gedser.
Reisende nach Jütland und Fünen erreichten ihre Ziele über Leipzig-Halle-Hamburg-Vamdrup. Seit der Volksabstimmung
von 1920 über die Zugehörigkeit Schleswigs war Padborg der eigentliche Grenzbahnhof, Vamdrup verfügte aber über
reichlich Platz in einer Güterhalle, wo sich einige hundert Kinder mit Gepäck leichter abfertigen ließen.
Sowohl in Gedser, als auch in Vamdrup leisteten Pfadfinderabteilungen unschätzbare Hilfe, indem sie die
aufgeregten Kinderscharen ordneten. Zur Weiterreise stellte die DSB Sonderwagen bereit, die Reiseetappen
in Dänemark wurden von den jeweiligen Verkehrsträgern kostenfrei geleistet. Zur Heimfahrt erschienen die
Kinder dann wieder gut genährt, neu eingekleidet und schwer bepackt mit Geschenken und Proviant. Um hier
die wildesten Auswüchse einzudämmen galt die Regel, nur was selbst getragen werden konnte, durfte mitgenommen werden.
Wienerbørn in Dänemark
Die Aufnahme der Wienerbørn war eine spontane Reaktion auf eine akute Notlage und traf die Pflegeeltern
völlig unvorbereitet. Entsprechend gab es auch keine keine Sprachmittler oder eine sozialpädagogische
Begleitung. Insgesamt gestaltete sich der Aufenthalt aber weitgehend unproblematisch. Schon nach 1-2
Monaten waren gute Sprachfähigkeiten etabliert, die auch den Schulbesuch erlaubten. Einige Kinder
hatten nach ihrer Heimkehr sogar Schwierigkeiten, wieder in ihre Muttersprache zurückzufinden.
Unerwartet schwer fiel dagegen der Trennung nach einer Besuchszeit von bis zu 12 Monaten. Die Kinder
hatten sich eingelebt und wollten ihre Pflegefamilien nicht verlassen. Die Gasteltern befürchteten
ihrerseits den Verlust der Fortschritte in der Kindesentwicklung bei den unverändert prekären
Verhältnissen in Wien. Darüber hinaus waren viele Kinder ihren Gastfamilien so innig verbunden, daß
ein Abschied kaum vorstellbar erschien. Es wurden Eingaben und Anträge zur Verlängerung des Aufenthalts
gestellt und selbst das Dänische Königshaus erreichten herzzerreißende Kinderbriefe. Letztendlich
bestand aber das Justizministerium auf einen begrenzten Aufenthaltsstatus und so blieb nur der Weg,
die Kinder mit einer erneuten Verschickung oder für einen Ferienaufenthalt zurüchzuholen. In vielen
Fällen wurden die freundschaftlichen Verbindungen der Wienerbørn mit ihren einstigen Pfelegeeltern
auf Lebenszeit liebevoll aufrecht erhalten. Es gab aber auch bittere Momente, als Jahre später das
einstige Pflegekind in der Uniform der Wehrmacht vor der Tür stand...
Trotz der anhaltend schlechten Versorgungslage in Wien drängte sich irgendwann die Frage auf, wie lange
das Programm eigentlich laufen sollte. Es herrschte allgemein die Ansicht, daß es sich nur um eine
temporäre Aktion handeln konnte und das Centralkontor beschloß am 16. September 1922 seine Auflösung.
Tatsächlich blieb man aber noch die folgenden Jahre aktiv, um für die Rückführung von im Land verbliebenen
Kindern zu sorgen und bei der Organisation von Folgebesuchen zu assistieren. Schließlich verfügte das
Justizministerium 1925, daß alle in Dänemark verbliebenen Wienerbørn in ihre Heimat zurückkehren
sollten. Diese Entscheidung löste in der Öffentlichkeit heftige Protesten aus, in deren Folge die
Aufenthaltsgenehmigung der letzten 287 Betroffenen "bis auf Weiteres" verlängert und
damit faktisch entfristet wurde. In Einzelfällen wurde auch die Adaption von Waisen durch dänische Familien genehmigt.
Bilanz
Während seiner 3-jährigen Aktionszeit 1919-22 hatte das Centralkontor in Kopenhagen insgesamt 30
Mitstreiter, landesweit engagierten sich in den rund 80 Lokalkomiteer durchschnittlich jeweils 8-10
Menschen. Ungeachtet des erheblichen Aufwandes, wurden alle Tätigkeiten ehrenamtlich geleistet.
In dieser Zeit wurden für rund 12.000 hilfsbedürftige Kinder über 18.000 Aufenthalte bei dänischen
Pflegefamilien organisiert. Die Höchstzahl von rund 6.000 in Dänemark anwesenden Wienerbørn wurde
im Juni 1920 verzeichnet. Die dänischen Gastgeber rekrutierten sich aus allen gesellschaftlichen
Schichten und Einkommensverhältnissen. Anteilig führten Landwirte mit 24 %, gefolgt von Handwerkerfamilien
mit 15 % der Pflegeplätze. Einige weniger vermögende Haushalte gingen dabei bis an ihre finanziellen
Grenzen, um ihrem Pflegekind die bestmögliche Versorgung und Ausstattung mit neuer Garderobe zu geben.
Folgeaktionen
Viele dänische Pflegeltern sorgten sich um das weitere Wohlergehen ihrer Schützlinge, nachdem diese
in ihre Heimat zurückgekehrt waren. Es entstand die Idee, den Kindern einen Anlaufpunkt zu bieten,
an dem sie der dänischen Kultur verbunden bleiben konnten. Man gründete 1921 "Den danske Klub for Wienerbørn",
dem von österreichischer Seite das Palais "Josefsstöckl" in der Parkanlage "Augarten"
zur Verfügung gestellt wurde. In dem Gebäude wurden eine Bibliothek, ein Speisesaal mit Küche sowie
Spiel- und Musikzimmer eingerichtet. Getragen von dänischen Spenden, fanden die ehemaligen Wienerbørn
hier Sprachkurse, Kulturveranstaltungen und Freiluftaktivitäten. Das Angebot wurde lebhaft genutzt
bis die Kinder erwachsen wurden. Als die Einrichtung Ende 1928 aufgelöst wurde, hatte man fast 300.000
Kinderbesuche registriert. "Den Danske Klub" bestand bis 1938.
Wegen der wieder verschlechterten Versorgungslage in Wien wurden ab 1934 in den Sommerfeien erneut
mehrwöchige Aufenthalte für bedürftige Kinder bei dänischen Gastfamilien organisiert. Jährlich kamen
einige Hundert Kinder in den Genuß dieser Aktion, die dann 1938 durch den "Anschluß" Österreichs
an das Deutsche Reich beendet werden mußte. Nach dem Ende des 2. Weltkrieges kam es in Wien wieder zu
prekären Lebensumständen und es wurden erneut bedürftige Kinder u.a. nach Dänemark verschickt. 1948-52
wurden hier rund 14.000 Kinder versorgt, die zum großen Teil in Ferienheimen untergebracht wurden.
Dank und Gedenken
Viele der ehemaligen Pflegekinder und Gasteltern hegten den Wunsch nach einem Wiedersehen in Wien und so
wurde im Mai 1927 eine Besuchsreise organisiert. Je ein Sonderzug mit 450 Reisenden startete in Gedser und
Padborg, 100 weitere Teilnehmer nutzten andere Reisemöglichkeiten. Es folgten 5 Tage in Wien, vollgestopft
mit einem Festakt bei "Den danske Klub for Wienerbørn", diversen Empfängen u.a. durch den
Österreichischen Bundespräsidenten Dr. Hainisch, Besichtigungen und einem Ausflug zum Semmering mit
Übernachtung. Im Abendprogramm standen eine exklusive Aufführung von Verdis "Aïda" in der
Wiener Oper, die Operette "Die Fledermaus" von Johann Strauss sowie ein Konzert der Wiener
Philarmoniker. Dank einer gründlichen Vorbereitung konnten die Kosten in einem relativ günstigen
Rahmen gehalten werden und für viele Teilnehmer war es die erste Auslandsreise überhaupt - ein großes Abenteuer!
Im September 1959 wurde der 40. Jahrestag der Ankunft des ersten Wienerbarn in Dänemark unter dem Motto
"Vi glemmer intet" (Wir vergessen nichts) groß gefeiert. Wieder reisten rund 1.300 ehemalige
Pflegeeltern und Freunde für eine Woche nach Wien mit je einem Schlafwagenzug ab Kopenhagen bzw.
Aarhus. Zur Abfahrt in Kopenhagen spielte ein Blasorchester österreichischer Eisenbahner, mit dem die
DSB auch für ihre Gesellschaftsreisen nach Österrreich warb.
Der Initiator der Aktion "Wienerbørn" Sigurd Jacobsen legte 1943 einen umfassenden Bericht
der Ereignisse vor mit seinem Buch "Wienerbørn i Landflygtighed" (Wiener Kinder auf Landflucht).
Ausführlich schilderte er das Vorgehen und auch die kontroversen Debatten, lieferte Zahlen und ließ
zahlreiche Zeitzeugen in Form zitierter Briefe und Tagebücher zu Wort kommen. Auf gut 300 Seiten würdigte
er den Einsatz und die Großzügigkeit aller Beteiligten, schaffte es dabei aber, seine eigene Rolle
völlig unerwähnt zu lassen. Dessen ungeachtet wurden er und seine Leistung nicht vergessen und
posthum geehrt. 1961 wurde seine Büste vor dem Städtischen Kindergarten in der Wohnanlage "Theodor-Körner-Hof",
5. Reinprechtsdorfer Straße 1 c, 1050 Wien enthüllt. Die Skulptur stammte von dem Bildhauer Paul Peschke, der einst selbst
als Wiener Kind in den Genuß der großherzigen Aktion des dänischen Volkes gekommen war. 1969 folgte ein Gedenkstein
im Rektorpark in Kopenhagen, der ebenfalls von Paul Pescke ausgeführt wurde. Am Palais Josephsstöckel
im Augarten wurde eine Reliefplatte mit dem Portrait des bescheidenen Philantropen angebracht
1960 gründete sich der Verein "Det Danske Samfund i Østrig" (DSØ) als Nachfolger des 1938
aufgelösten "Den Danske Klub". Man verstand sich als Freundschaftsvereinigung mit dem Ziel,
die wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Beziehungen beider Nationen sowie die dänische
Sprache zu fördern. Ein zentrales Motiv war dabei die Erinnerung an das Schicksal der Wienerbørn,
das etliche Vereinsmitglieder als Zeitzeugen teilten. Seit 2008 agiert der Verein als
"Österreichisch Dänische Gesellschaft" (ÖDG) und pflegt ein reges Vereinsleben mit
diversen Veranstaltungen. Anläßlich des 100. Jahrestages der Aktion Wienerbørn wurde eine Gedenktafel im
Wiener Donaupark enthüllt, für September 2025 war die Feier des 65. Jahrestages des eigenen Bestehens angekündigt.
Quellen:
Dachverband aller österreichisch-ausländischen Gesellschaften - PaN: https://www.dachverband-pan.org
Immigrantmuseet: Interessen for Krigens Børn, https://immigrantmuseet.dk
Jacobsen, Sigurd (1943): Wienerbørn i Landflygtighed. Gyldendalske Boghandel, Nordisk Forlag
(
Dankernes Historie Online).
Knudsen, Susanne H. (2009): Da wienerbørnene kom til Danmark. Kristeligt Dagblad, www.kristeligt-dagblad.dk
Knudsen, Susanne H. (2009): Historisk dag for de tidligere wienerbørn. Kristeligt Dagblad, www.kristeligt-dagblad.dk
N.N. (2007): Wienerbørnene husker Danmark. Kristeligt Dagblad, www.kristeligt-dagblad.dk
Österreichisch Dänische Gesellschaft e.V.: https://oesterreichdaenemark.org
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